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Interview: Private Zeitzeugnisse der DDR im Fokus

Interview: Private Zeitzeugnisse der DDR im Fokus

Andreas Ilse, Mitbegründer des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte
Andreas Ilse, Mitbegründer des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte Foto: Mario Keim/TAZ/dpa

Seit 25 Jahren verwahrt das Archiv für Zeitgeschichte private Fotos und Dokumente von kritischen DDR-Bürgern. Für die nächsten Jahrzehnte rechnet Andreas Ilse vom Trägerverein mit einem weiterhin großen Interesse an solchen persönlichen Zeugnissen.

25 Jahre nach seiner Gründung vertrauen immer mehr Zeitzeugen aus der DDR-Opposition dem Jenaer Archiv für Zeitgeschichte ihre persönlichen Schriftstücke und Fotos an. „Wir bekommen immer neues Material – etwa als Vor- und Nachlässe“, sagte der Vorstand des Trägervereins, Andreas Ilse, der Deutschen Presse-Agentur. Deswegen stoße das Spezialarchiv, das 2011 als erstes in Thüringen mit dem Archivpreis des Landes ausgezeichnet worden war, an Kapazitätsgrenzen und müsse weitere Räume anmieten. Am Freitag feiert das Archiv sein 25-jähriges Bestehen.

Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte wurde 1991 gegründet – warum war das damals überhaupt noch notwendig?

Da muss ich etwas früher ansetzen. Schon fünf Jahre zuvor haben sich in Jena junge Leute zusammengetan, um Veranstaltungen in kirchlichen Räumen mit Künstlern zu organisieren, die offiziell nicht auftreten konnten. Dabei wurden Spenden für Projekte etwa in der Dritten Welt gesammelt. Eines der ersten Konzerte war von Stephan Krawczyk und Freya Klier. Einige der Initiatoren von „Künstler für Andere“ haben später in Jena den Leseladen gegründet – das war so etwas wie die Umweltbibliothek in Berlin. Dort konnte man auch Westliteratur lesen und Publikationen zu Umweltthemen.

Und damit wurde der Grundstock fürs spätere Archiv gelegt?

Sozusagen. Mit der Besetzung von Stasi-Zentralen durch die Bürger kamen einige von ihnen erstmals an ihre Stasi-Akte. Der Zugang war damals aber noch nicht geregelt. Wir haben gesagt: Gebt uns die Akten, wir sammeln die hier. Es ging zunächst um das Aufbewahren dieser Stasi-Akten, aber auch um das Sammeln von Samisdat-Schriften – also selbst verlegte Publikationen, die zuvor nicht erscheinen durften. Mit dem Stasi-Unterlagengesetz war dann der öffentliche Zugang zu den Stasi-Akten gegeben. Aber was Menschen gedacht und in Briefen notiert haben, das war nicht zugänglich. Genau auf diese privaten Dokumente haben wir nun unseren Schwerpunkt gelegt.

Es geht Ihnen also vor allem um persönliche Zeugnisse.

Ja, es geht um Zeitzeugnisse von Menschen, die zur DDR kritisch eingestellt waren. Das sind Flugblätter, Schriftverkehr, Briefe, Plakate, Gedächtnisprotokolle, aber auch Musikmitschnitte, Fotos und Super-8-Filmaufnahmen. Es geht darum, das Leben sprechen zu lassen und Diktaturgeschichte nicht nur aus der staatlichen, sondern auch aus der persönlichen Sicht beleuchten zu können. Unsere Quellen sind auch einseitig, aber nur mit ihnen ergibt sich ein ganzheitlicheres Bild.

Die Frage, was mit ihren persönlichen Erinnerungsstücken und Aufzeichnungen passieren soll, dürfte sich vielen Bürgerrechtlern von einst in den nächsten Jahrzehnten verstärkt stellen.

Der Strom an Quellen zur Zeitgeschichte der DDR wird so schnell nicht versiegen. Wir bekommen immer neues Material – etwa als Vor- und Nachlässe. So ist unser Archiv zu klein geworden. Wir müssen deswegen weitere Räumlichkeiten anmieten und uns von 200 auf etwa 350 Quadratmeter vergrößern. Unsere Perspektive reicht derzeit bis 2035.

Können Sie bitte Beispiele für die Schätze des Archivs nennen?

Wir haben hier die Unterlagen des Neuen Forums in Thüringen von seiner Gründung bis zur Auflösung. Und die Gründungsunterlagen der Grünen-Partei aus der Privatsammlung von Olaf Möller. Zudem beherbergt das Archiv Briefe, Notizen und Manuskripte des Pfarrers Walter Schilling, der die offene Arbeit in der DDR begründet hat.

Aber warum braucht es 26 Jahre nach der Wiedervereinigung überhaupt noch so ein Spezialarchiv? Sollten nicht die Staatsarchive oder Stadt- und Kreisarchive auch dieses Material pflegen?

Manchen Menschen, die in der DDR-Diktatur von staatlichen Stellen ausspioniert, überwacht und geschädigt wurden, fehlt es auch heute an Vertrauen zu staatlichen Strukturen. Was ist, wenn eine Partei an die Macht kommt, die verfügt, dass diese Akten vernichtet werden? Oder ein Minister, ein Landtag diese Unterlagen nicht mehr für sinnvoll hält? Eventuell wollen staatliche Archive solche privaten Unterlagen auch gar nicht aufnehmen.

Unser Sammlungszweck geht weit über Thüringen hinaus, und wir haben Archivgut aus ganz Deutschland. Es gibt in Ostdeutschland nur drei solche hauptamtlich betreuten Spezialarchive: Außer unserem noch in Berlin und Leipzig. Andere Einrichtungen arbeiten nur ehrenamtlich – etwa als Geschichtswerkstatt oder als Verein zur Zeitgeschichte.

Sie sprechen von einer Perspektive bis 2035. Aber auch danach dürfte das Interesse an der DDR-Geschichte kaum abreißen.

Das ist zu erwarten – sehen Sie nur, wie groß das Interesse an der Geschichte zum Dritten Reich mehr als 70 Jahre nach Kriegsende ist. So wird uns auch die Diktaturgeschichte zur DDR noch Jahrzehnte beschäftigen. Und wenn ich sehe, wie viele Menschen sehr undifferenziert mit dieser Geschichte umgehen, ist der Erhalt und die Pflege dieser Quellen dringend nötig. Gerade persönliche Zeugnisse entfalten oft immense Wirkungskraft – denken Sie an das Tagebuch der Anne Frank. Gäbe es das nicht, würde eine wichtige Sichtweise auf die Nazi-Diktatur fehlen. Ähnlich ist das mit unseren Quellen und ihrer Sicht auf die DDR. Diese Perspektive fehlt in staatlichen Archiven.