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Erfurt: Hier stand knapp 100 Jahre das älteste Kino der Stadt – „Es hat wehgetan, es nach der Schließung zu sehen“

Erfurt: Hier stand knapp 100 Jahre das älteste Kino der Stadt – „Es hat wehgetan, es nach der Schließung zu sehen“

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An dieser Stelle stand beinahe ein Jahrhundert das älteste Kino in Erfurt. Heute ist dort ein Anziehsachenladen. Foto: imago images/Privat/Fotomontage

Erfurt. 

Als Morris Rödiger im April 2006 den altehrwürdigen Anger Filmpalast betritt, erkennt er das Kino beinahe nicht wieder. „Ich habe es kurz vor dem Abriss besichtigt. Es hat sehr wehgetan, es viele Jahre nach der Schließung zu sehen“, erzählt der bald 32-Jährige. Er hat eine besondere Verbindung zu dem Lichtspielpalast, doch dazu später mehr.

Wo früher hunderte Menschen voller Vorfreude den langen Gang am Anger 57 entlangströmten, stapelten sich nun Sitze übereinander. Leinwände waren zerschnitten worden, damit die Lautsprecher dahinter ausgebaut werden konnten. Als Morris das Kino betritt, hat es bereits seit fünf Jahren geschlossen. Doch wie kam es, dass mit dem Anger Filmpalast eine Institution in der Innenstadt Erfurts nach knapp 90 Jahren von der Bildfläche verschwand?

Erfurter erinnert sich: Anger Filmpalast wird zum modernsten Kino in der Stadt

Morris Rödiger, in Erfurt geboren, ist Cineast und hat die jüngere Geschichte des Anger Filmpalastes begleitet. Er kennt jede Anekdote und jeden Winkel, hat hier mit „Mulan“ 1997 sein erstes großes Kino-Erlebnis gehabt.

1920 wird ein Festsaal, der zuvor schon für Kinovorführungen genutzt worden war, zum Anger Theater umgebaut. Der Saal wird immer weiter ausgebaut, das Kino wechselt häufig Namen und Besitzer.

„Am 10. Dezember 1992 eröffnet der Anger Filmpalast neu“, erzählt Morris. Zu der Zeit gibt es fünf Kinos in der Landeshauptstadt. Doch nach westlichem Vorbild sollen die Kinos mehrere Säle erhalten und mehr Zuschauer fassen. In acht Wochen werden unter der Führung der Lübecker Familie Kieft vier Säle geschaffen, damit ist der Anger Filmpalast das modernste Kino Erfurts.

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Chronologie Anger-Kino:

  • 1920: Festsaal, in dem bereits Filmvorführungen stattfanden, wird zum Anger-Theater umgebaut
  • 1924: Erweiterung von 900 auf 1000 Sitzplätze
  • Zu DDR-Zeiten: Erst Anger-Theater, dann Anger-Theater und Kino am Anger
  • 1992: Übernahme durch Familie Kieft aus Lübeck
  • 1992/93: Umbenennung in Anger Filmpalast und Umbau zu sieben Sälen
  • 2006: Teilabriss und Neugestaltung als Wohn- und Geschäftshaus

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„Einige Kinobesucher aßen erstmal in ihrem Leben Popcorn“

„Es ist Surround-Sound mit Dolby Stereo verbaut worden, das kannten die Menschen in der DDR zuvor nicht“, erinnert sich Morris. Bei der Prämiere sind die Besucher derart vom Popcorn begeistert, dass schon bald eine größere Maschine gebraucht wird, um die Nachfrage zu decken.

Noch im laufenden Betrieb kommen weitere Säle hinzu: Ein früheres Tanzlokal in der Borngasse wird zum Saal 4. Ein Jahr später entstehen unter diesem Saal die Säle 5, 6 und 7. Nun fasst das Kino 1.300 Plätze.

Anger-Kino entspricht nicht mehr Ansprüchen des 21. Jahrhunderts

Wo heute das Klamottengeschäft Zara ist, konnten Erfurter Plakate mit den neusten Blockbustern bestaunen. Ein ellenlanger Gang führte zum Foyer, dahinter befand sich die große Theke samt Popcorn-Maschine. Doch dieser Hauptzugang ist Ende der 90er nicht mehr begehbar.

„Neben dem Anger-Kino fanden Abrissarbeiten in einem Schuhladen statt, dabei ist auch der Zulauf zum Kino beschädigt worden“, erzählt der gebürtige Erfurter, der heute bei Dortmund lebt. Deshalb mussten Besucher einmal ums Gebäude herumlaufen und über Monate den Hintereingang an der Borngasse nutzen.

Bildergalerie: So hat sich der Anger Filmpalast über die Jahre gewandelt

Hier deute sich bereits an: Um die Bausubstanz des Kinos war es nicht gut bestellt. „In DDR-Zeiten ist nicht viel investiert worden“, weiß Morris, der selber drei Jahre, unter anderem als Filmvorführer, im CineStar Erfurt gearbeitet hat. Größere Leinwände, Sitzabstände von 1,20 Meter – es hätte viel Geld gebraucht, um das Kino auf den aktuellen technischen Stand zu bringen.

Die Zeit holt Anger-Kino ein, doch ein Stück Geschichte lebt im Ruhrgebiet weiter

Morris meint: „Der Todesstoß war die Übernahme des UFA-Kinos in der Bahnhofstrasse durch CineStar.“ Nach Fertigstellung eines Cinestar-Multiplexkinos in einem Neubau am Hirschlachufer, endet 2001 die 86-jährige Geschichte des Kinos am Anger. Selbst da hat Morris noch eine Anekdote parat: „Die Leuchtreklame ‚Anger Filmpalast‘ hat bis zum Ende gebrannt, weil man die Sicherung nicht gefunden, um sie auszuschalten.“

Der filmbegeisterte Morris macht später sein Hobby zum Beruf: Für eine Veranstaltungskaufmann-Ausbildung im Kino zieht es ihn ins Ruhrgebiet. „Kinos in Erfurt waren mein Zuhause. Wenn ich nach Hause komme, führt der zweite Weg direkt ins Kino“, berichtet er. Ein Stück Anger-Kino findet sich noch heute in seiner Wohnung: Kurz vor dem Abriss konnte er zwei Kinostühle ergattern.