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50 Jahre Erfurt und seine dunkle Geschichte in der DDR – „Pogromhafte Stimmung“

Vor 50 Jahren kam es in Erfurt zu einer gemeinen Hetzjagd – nachdem der Alltagsrassismus immer weiter ausartete. Was passiert ist:

© IMAGO/Steinach

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Wer heute durch Erfurts Straßen schlendert, begegnet vielen lachenden Gesichtern aus unterschiedlichsten Kulturen und stößt an jeder Ecke auf Geschäfte, die Einflüsse aus aller Welt in sich tragen. Diese weltoffene Atmosphäre war jedoch nicht immer selbstverständlich.

Vor rund 50 Jahren zeigte sich ein völlig anderes Bild: In der Blumenstadt herrschte für viele Menschen Angst und Schrecken – besonders für viele damalige Algerier. Denn auf sie wurde eine regelrechte Hetzjagd entfesselt.

Erfurt: Gerüchte schürten Hass

Alles begann mit einem entspannten Abend in einer Erfurter Kneipe im Jahr 1975. Ein Gast – der gleichzeitig auch Kraftfahrer in einem Erfurter Betrieb war – erzählte seinen Kollegen von einer gruseligen Geschichte. Mehrere Algerier hätten in Erfurt Deutsche angegriffen und eine Frau vergewaltigt.

Diese Geschichte stieß bei vielen Kollegen auf offene Ohren. Einige waren eh schon genervt von den Ausländern in der Stadt – das ist laut dem MDR in Unterlagen der Staatssicherheit zu lesen. Sie fühlten sich durch die Erzählungen weiter in ihrer Einstellung bestätigt, dass Araber nicht in die Stadt gehören. Das Verheerende: Im Nachhinein gab der Kraftfahrer bei der Polizei zu, sich die Geschichten nur ausgedacht zu haben. Aber es war bereits zu spät. Der Groll gegen die Algerier war bereits gehegt.

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Erfurt: „Pogromhafte Stimmung“

Zuvor schloss die DDR ein Abkommen mit Algerien, das den zeitweiligen Einsatz algerischer Arbeiter in DDR-Betrieben sowie ihre Weiterbildung vorsah. Ziel war es, die Beziehungen zu Nordafrika zu stärken und die Arbeiter vom Sozialismus zu überzeugen. Im Juni 1975 kamen etwa 300 Algerier nach Thüringen, arbeiteten in Erfurt und im Gummikombinat Waltershausen. Laut Stasi-Unterlagen kam es bald zu Problemen: einzelne Algerier belästigten demnach Frauen im Schwimmbad, tranken viel Alkohol, grölten, warfen Pflastersteine und gerieten wiederholt in Prügeleien, besonders mit ungarischen Arbeitern. Zudem waren laut Stasi-Unterlagen viele Algerier unzufrieden mit ihren Jobs – sie seien zu uninteressant. Das Gerücht, dass Ausländer besser entlohnt und auch bei der Wohnungssuche bevorzugt würden, verschlimmerte die Situation weiter.

Am 10. August 1975 – vor 50 Jahren – kam es dann zu den ersten Auseinandersetzungen, welche die Stasi dokumentierte. Ein Algerier versuchte offenbar auf einem Rummel eine Deutsche gegen ihren Willen zu küssen, woraufhin ihn mehrere Jugendliche verprügelten. Auch ein weiterer Algerier wurde verletzt und so flohen die etwa 25 Algerier vom Ort des Geschehens – dicht gefolgt von den Jugendlichen. „In aufgebrachter, pogromhafter Stimmung folgten ihnen zuerst etwa 150, später nahezu 300 Jugendliche“, heißt es in den Unterlagen. Einer der Jugendliche hetzte sogar seinen Schäferhund auf die fliehende Gruppe.

Rassismus blieb bestehen

Weitere Konflikte folgten. Es kam zu massiven Übergriffen deutscher Jugendlicher, bei denen rund 150 Personen Hetzjagden am 12. August durchführten. Der Leitspruch damals: „Schlagt die Algerier tot, jagt sie heim, sie sollen sich wieder in den Busch scheren.“ Die Polizei schützte die Algerier, nahm zahlreiche Angreifer fest, und Haupttäter erhielten mehrjährige Haftstrafen.

Die Stasi stellte fest, dass Gerüchte und rassistische Vorurteile – teils auch unter SED-Mitgliedern – weit verbreitet waren. Viele Erfurter glaubten an schwere Straftaten der Algerier, obwohl keine Beweise existierten. Die Stasi Erfurt ermittelte damals zu allen Gerüchten – fand jedoch laut dem MDR keine Straftat, die von Algeriern begangen worden war.


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Erst nach den Vorfällen wurde verstärkt informiert, Sport- und Begegnungsangebote geschaffen und Gerüchte entkräftet. Ganz aus der Welt geschaffen war das Problem aber nicht, und es kam immer wieder zu vereinzelten Spannungen. Ein breites Problembewusstsein für Alltagsrassismus entwickelte sich in der DDR erst in den 1980er-Jahren.