Am 8. Dezember 2024 wurde Machthaber Assad gestürzt. Der Tag markierte das Ende der 13-jährigen Leidenszeit des syrischen Volkes, welche geprägt war von Unterdrückung und Machtmissbrauch. Die Übergangsregierung unter der Leitung der ehemaligen Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) hat eine Aufbruchsstimmung ausgelöst, doch knapp sieben Monate später ist in Syrien die Unsicherheit zurückgekehrt.
Grund sind die jüngsten Ausschreitungen zwischen den unterschiedlichen religiösen Gruppierungen. Bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Drusen und Beduinen starben beispielsweise knapp 90 Menschen. Als Antwort auf die steigende Gewaltspirale wurden teilweise Regierungssoldaten mobilisiert. Über diese Entwicklungen und die Frage nach dem Sicherheitsstatus von Syrien konnte unsere Redaktion mit André Bank vom GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg sprechen.
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Herr Bank, ist das Herstellen von Stabilität, welches sich die neue Regierung zum Ziel gesetzt hatte, schon jetzt gescheitert?
Knapp acht Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes hat die syrische Übergangsregierung, die von sunnitisch-islamistischen Vertretern (der ehemaligen HTS, Hai’at Tahrir ash-Sham) dominiert wird, zwischen der Hälfte und zwei Dritteln des Landes mehr oder weniger unter militärischer Kontrolle. Neben der israelischen Besatzung im Südwesten und der türkischen Besatzung im Norden kontrollieren die kurdisch geprägten SDF (Syrischen Demokratischen Kräfte) zusammen mit US-Truppen den Nordosten Syriens. Gerade in dieser Region gibt es immer wieder Anschläge der Terrororganisation IS.
„Unterschiedliche Gewaltordnungen“ erschweren Situation in Syrien
Im Süden üben drusische Milizen, im Westen alawitische Kämpfer, von denen einige mit dem alten Assad-Regime sympathisieren, noch eine gewisse eigenständige Kontrolle aus. Diese unterschiedlichen lokalen Gewaltordnungen unterstreichen, dass viele der Dynamiken des internationalisierten Bürgerkriegs auch nach Ende des Assad-Regimes noch fortbestehen. Gleichzeitig gibt es trotz der fragilen und teilweise gewaltsamen Situation vor Ort – und trotz notwendiger Kritik an der Übergangsregierung – die große Hoffnung, dass nach der Aufhebung der US- und EU-Sanktionen neue Gelder und Investitionen für den Wiederaufbau nach Syrien fließen. So könnte aus der fragilen Gewaltkontrolle nachhaltigere Stabilität hergestellt werden.
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Braucht es eine Intervention von außerhalb, beispielsweise eine UN-Mission, um Syrien zu Stabilität zu verhelfen?
Die Mehrheiten für eine UN-Mission sehe ich nicht. Schon gar nicht im UN-Sicherheitsrat, wo die USA, Großbritannien und Frankreich einerseits und Russland und China andererseits weiterhin konträre Positionen zu Syrien haben. Wichtig wäre es, dass die völkerrechtswidrigen und eher Gewalt fördernden militärischen Besatzungen der Türkei im Norden Syriens sowie Israels im Südwesten möglichst zügig und umfassend enden. Hier wäre auch ein Ansatzpunkt für europäische und deutsche Diplomatie, auf die Regierungen in Ankara und Tel Aviv, einzuwirken.
Bank: Regierung muss Diversität der Gesellschaft gerecht werden
Wie kann man die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften in Syrien, beispielsweise Drusen und Beduinen, von einem friedlichen Zusammenleben überzeugen?
Wichtig ist es, dass die diversen religiösen (unter anderem Sunniten, Alawiten, Drusen, Christen) sowie ethnischen Gruppen (unter anderem Araber, Beduinen, Kurden, Turkmenen) für sich und ihre Gemeinschaften eine Zukunft in einem gemeinsamem, multikonfessionellen und multiethnischen Syrien sehen. Politisch ist es hierfür zentral, dass die Regierung Kontrolle über das gesamte Territorium ausüben kann. Es sollte neben dieser Zentralstaatslogik aber auch kulturelle Rechte und gewisse regionale Eigenständigkeiten geben.
In der Ausarbeitung der neuen syrischen Verfassung, im Wahlgesetz sowie in
Politiken der Dezentralisierung, müssen also Kompromisse gefunden werden. Es muss die territoriale Integrität Syriens erhalten und gestärkt sowie der Diversität
der syrischen Gesellschaft Rechnung getragen werden. Dies ist ein sehr schwieriger, aber
unerlässlicher Prozess, für den es weiterhin großer internationaler Unterstützung bedarf.

Bundesregierung sollte „von Rückführungen ins Land absehen“
Wie steht es angesichts der jüngsten Auseinandersetzungen um Syriens Sicherheitsstatus? Nach dem Sturz von Assad kehrten viele Syrer in ihre Heimat zurück. Ist dies auch künftig möglich?
Die Sicherheitslage in Syrien ist trotz des Endes der brutalen Assad-Diktatur weiterhin prekär. Zwar gibt es eine Beruhigung der Situation in der ehemaligen Rebellenhochburg in Idlib im Nordwesten oder auch in großen Städten wie Aleppo und Damaskus. In anderen Landesteilen, etwa im Süden und teils im Westen, ist es auch nach Dezember immer wieder zu massiver Gewalt gekommen.
Hinzu kommen die fortwährenden Bombardements Israels wie auch der Türkei. Vor diesem Hintergrund sind zwar viele Syrer und Syrerinnen nach Syrien zurückgekehrt, viele jedoch verständlicherweise nur temporär. Erst wenn die lokale Gewalt nachhaltig beendet, ein inklusiver politischer Prozess eingeleitet und vor allem auch eine Verbesserung der sozio-ökonomischen Lage eingetreten ist, werden sehr viele Syrer und Syrerinnen in ihre Heimat zurückkehren. Dann können sie auch langfristig bleiben.
Derzeit bereitet die Bundesregierung Rückführungen nach Syrien vor. Muss die Bundesregierung ihren Kurs überdenken?
Angesichts der weiterhin sehr prekären Sicherheitslage in weiten Teilen Syriens sollte die Bundesregierung von Rückführungen ins Land absehen. Es ist ein Fehlglaube, dass mit dem Ende der brutalen Assad-Diktatur im Dezember zugleich auch die Bürgerkriegsgewalt geendet hat. In einzelnen Landesteilen ist die Lage aktuell sogar prekärer als 2024. Zudem könnte eine Rückführung von vielen Syrern und Syrerinnen die Lage vor Ort weiter destabilisieren.