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Acht Arme, drei Köpfe – Erzieherinnen am Limit

Acht Arme, drei Köpfe – Erzieherinnen am Limit

Kita-Erzieherin Clara
Kita-Erzieherin Clara Foto: Axel Heyder
  • Erzieherin berichtet aus ihrem Arbeitsalltag
  • Besserer Betreuungsschlüssel wichtiger, als beitragsfreies Kita-Jahr
  • Thüringen bei der Kinderbetreuung bundesweit hinten

Acht Arme alleine würden Clara* nicht weiter helfen. Denn sie bräuchte noch wenigstens drei Köpfe dazu. Hier läuft eine Nase, einer ist hingefallen, hat sich weh getan und braucht Trost, ein kleines Mädchen will nur mal schnell was zeigen und der nächste sucht etwas. Bei jeder Mutter von Sechslingen würde jeder fragen: Wow, die Arme, wie soll sie das denn alles gleichzeitig schaffen? Bei Thüringer Kindergärtnerinnen ist es gelebter Alltag, ihr Berufsleben lang.

Der ganz normale Wahnsinn beginnt in der Frühdienstwoche gegen 4 Uhr, wenn der Wecker klingelt. Der Kindergarten öffnet bereits 5.30 Uhr, da kann Clara nicht erst eine Minute davor die Tür aufschließen. Wenn die ersten Eltern ihre Kinder bringen, soll alles vorbereitet sein.

Eine Bindung aufbauen

Dass sie ihre Arbeit nicht so machen kann, wie sie es gern möchte, hat vor allem damit zu tun, dass Thüringen bei der Kinderbetreuung einen im Bundesvergleich schlechten Betreuungsschlüssel hat, wie alle anderen Ostländer auch. Bei Kindern im Alter zwischen einem und zwei Jahren muss sich eine Erzieherin um bis zu sechs von ihnen zeitgleich kümmern. Das klingt im ersten Moment machbar. Nicht aber, wenn man genauer hinschaut.

„Allein, wenn eines der Kindern in die Hosen macht, wird es schon schwierig, die anderen im Auge zu behalten. Wir haben ja die Pflicht zur Aufsicht.“ Ähnlich beim Essen, je nach Alter muss manches Kind eben noch gefüttert werden. Doch was machen die anderen Fünf in dieser Zeit? „Wir stellen vor allem sicher, dass der Ablauf funktioniert. Aber Kinderbetreuung bedeutet viel mehr als das. Die Kleinen benötigen Liebe und Zuwendung, sie bauen Bindungen auf, brauchen Vertrauen, der geht nicht im Vorbeiflug“, sagt Clara.

In Claras Einrichtung arbeiten weniger als 30 Erzieher für rund 180 Kinder, derzeit sind neun Kollegen wegen Urlaubs und Krankheit nicht da. Eine organisatorische Meisterleistung für die Leiterin, die ihre Kräfte von Gruppe zu Gruppe verschieben und immer wieder selbst einspringen muss. Manchmal werden Kinder auf andere Gruppen aufgeteilt, was Stress für die Kleinen bedeutet. „Schlimmstenfalls bitten wir die Eltern, ihre Kinder später zu bringen oder eher abzuholen“, was keinesfalls ein Lösung des Problems ist.

Vollzeit ist die Ausnahme

Der Betreuungsschlüssel ist dazu an nur neun Stunden täglich ausgerichtet. Vor Ort sind aber – mit Vor- und Nachbereitung – Erzieher in drei Schichten rund zwölf Stunden in der Einrichtung. Dazu kommt, dass von 27 Kolleginnen nur eine Vollzeit angestellt ist, was üblich ist in diesem Beruf. Arbeitsverhältnisse zwischen 20 und 34 Wochenstunden sind die Regel, nicht die Ausnahme.

„Ich genieße die wenigen Momente, in denen mal nur vier bis fünf Kinder da sind. Erst dann komme ich dazu, ein Kind länger als zwei bis drei Minuten, wie es oft der Fall ist, auf den Schoß zu nehmen und mich ganz individuell und intensiv mit dem Kind beschäftigen. Beispielsweise ein Buch mit ihm anzuschauen“, erzählt die 44-Jährige aus ihrem Alltag. „Wie soll ich sonst überprüfen können, was in meinem Berufsbild verankert ist: Nämlich, dass ich den Entwicklungsstand des Kindes beurteilen können muss.“ Und das ist keine rein freiwillige Aufgabe, denn Entwicklungsbögen muss sie ebenfalls ausfüllen. Auch diese Zeit muss sie sich nehmen.

Keine Pufferzone

Noch komplizierter wird es, wenn ein Kind hinzukommt, das eigentlich Förderbedarf hat. „Hier wäre im Grunde eine Eins-zu-Eins-Betreuung vonnöten, aber bis in diesem Fall alles geklärt ist, dauert es viel zu lange. In dieser Zeit übernehmen wir das natürlich mit.“ Ebenso, so schildert sie, sei das der Fall, wenn ein Kind zur Eingewöhnung komme. „Eingewöhnung braucht Zeit und Zuwendung. Das Kind ist das erste Mal im Leben mit fremden Menschen in einer neuen Umgebung. Das kann man nicht nebenbei laufen lassen.“ Auch das müsse abgedeckt sein. All das sind Situationen, in denen es keine Pufferzone gibt, bei einem Betreuungsschlüssel, der im Thüringendurchschnitt bei 1:5 liegt, für Kinder unter zwei Jahren. Noch schlechter sieht es nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung nur in den anderen Neuen Bundesländern aus.

In Baden-Württemberg indes würden die Eltern Sturm laufen, dort gönnt man sich einen Schlüssel von weniger als 1:3. Bedingungen, von den Thüringer Erzieherinnen nur träumen können. Die Kosten, die für die Einführung eines beitragsfreien letzten Kindergartenjahres aufgewendet werden, würde nach Meinung vieler Erzieher sinnvoller in die Verbesserung des Betreuungsschlüssels gesteckt, dann wäre Kindern, Eltern und Erziehern geholfen. Dann könnten sie viel öfter zeigen, was sie wirklich können, wozu aber oft die Zeit fehlt. Das aber, war nun mal kein Wahlversprechen.

* Name von der Redaktion geändert.